Interview mit Radu Mihaileanu
Wie ist dieses Filmprojekt entstanden?
Wie allen meinen bisherigen Filmen lag auch GEH UND LEBE
die Idee zugrunde, dass der Mensch einen ständigen Kampf
mit sich selbst austragen muss, um sich zu überwinden
und aus dem Panzer, der ihn umgibt, auszubrechen. Das mag
sehr theoretisch und reflektiert klingen, es ist aber nicht
so, dass ich etwas konstruiere. Ich lasse mich eher einfangen
von Geschichten, die mich beschäftigen, die Geschichten
finden mich - nicht ich die Geschichte. Ich muss meine Hauptdarsteller
immer in eine starke dramatische Situation hineinversetzen,
damit ich zusammen mit ihnen jene Lebensfragen heraus arbeiten
kann, die mir wesentlich und wichtig erscheinen.
Wie sind Sie darauf gekommen, einen Film über
die Falashas zu machen?
Ich erinnerte mich an die „Operation Moses“ und
die Überführung der äthiopischen Juden nach
Israel in den Jahren 1984/85. Die ganze Tragweite dieses menschlichen
Abenteuers war mir aber damals nicht bewusst - dabei
scheint es mir durch die damit aufgeworfenen Fragen vielleicht
eines der komplexesten des 20. Jahrhunderts. Dank eines Treffens
mit einem äthiopischen Juden beim Filmfestival in Los
Angeles habe ich begriffen, dass die Falashas nur Statisten
bei dieser Operation blieben, in der sie eigentlich die Hauptpersonen
waren. Dieser Mann in Los Angeles erzählte mir seine
Geschichte: Er berichtete von einer Reise zu Fuß bis
in den Sudan, wo sie als Juden in Todesgefahr waren, vom Leben
in den Flüchtlingslagern und ihrer Aufnahme in Israel.
Ich war zutiefst bewegt und gleichzeitig aufgebracht, dass
man bis heute nichts darüber gehört hat. Daraufhin
habe ich mir alles besorgt, was bisher über die Falashas
publiziert worden war; auf diese Weise habe ich meinem Mitgefühl
und meinem Wunsch, mehr über sie zu erfahren, Nahrung
gegeben und immer grössere Lust bekommen, ihnen einen
Film zu widmen.
Haben Sie aufwändige Recherchearbeit gemacht?
Ich lasse jedes Thema, das ich fürs Kino behandeln will,
über mehrere Monate oder gar Jahre reifen, bevor ich
anfange, es zu entwickeln. Dann ist es auf einmal, als ob
ich von dem Thema an die Hand genommen und zu einer Reise
eingeladen werde. Ich schreibe dann eine Synopsis von etwa
zehn Seiten und beginne zusammen mit meinem Co-Autor Alain-Michel
Blanc die Recherchearbeit. Für GEH UND LEBE haben wir
viel gelesen und, besonders wichtig, wir haben uns vor Ort
mit jenen Leuten getroffen, die in die „Operation Moses“
eingebunden waren: Äthiopier, Mitglieder des Mossad,
der Armee und der Luftfahrtsgesellschaften, Soziologen, Historiker,
sogar nicht-jüdische Äthiopier, die in Israel untergetaucht
sind, und auch Gadi Ben Ezer, ein Psychologe, der das Mysterium
der äthiopischen Seele zu erhellen vermochte. So haben
wir Dutzende von Stunden Bandmaterial nach Frankreich zurückgebracht.
Der unerhörte Reichtum dieser Aufnahmen ist in die Geschichte
eingeflossen und hat einige Dialoge inspiriert.
In der Geschichte der Falashas gibt es religiöse,
politische und mythologische Dimensionen...
Der Film versucht, alle drei Dimensionen verständlich
zu machen. Es gibt eine sehr starke Verbindung zur Mythologie,
die bis zu den Anfängen der Falashas zurückgeht.
Denn noch heute wird erzählt, dass die Falashas aus der
Verbindung des Königs Salomon und der Königin von
Saba hervorgegangen sind. Doch die Legende, die sie immer
weitergegeben haben, ist biblisch; übrigens sind sie
jüdischer als alle anderen Juden dieser Welt, denn sie
richten sich nach der Original-Thora. Als ich sie das erste
Mal auf Fotos sah, haben sie mich an Moses denken lassen,
und ich hatte das Gefühl, sie stammten aus einer anderen
Welt. Sie selber haben immer daran geglaubt, dass sie eines
Tages in Jerusalem ankommen werden, denn in der Thora steht
geschrieben, dass sie auf dem Rücken eines grossen Adlers
in das Heilige Land zurückkehren. Deshalb hatten sie,
als sie per Flugzeug überführt wurden, keine Angst
vor diesem Transportmittel, weil sie es einfach als den grossen
Vogel aus der Thora ansahen.
Welches waren Ihre ästhetischen Gesichtspunkte?
Der Stil des Films sollte einerseits dokumentarisch sein,
um die geschichtliche Realität gewissenhaft zu respektieren,
er sollte aber auch eine Geschichte haben, damit aus den Figuren
aussergewöhnliche Menschen werden. Gleichzeitig habe
ich es mir aber untersagt, aus den Prüfungen, die diese
Menschen durchleben mussten, ein Spektakel zu machen. Ich
konnte auch nicht direkt zeigen, wie in einem Flüchtlingslager
tausende von Menschen sterben. Darum habe ich versucht, den
Zuschauer gewisse Situationen erspüren zu lassen, statt
sie direkt zu zeigen: Den einzigen Eindruck vom Camp vermittelt
das Gesicht einer Mutter, deren Kind gerade gestorben ist.
Durch sie kann die Realität des Camps begreiflich gemacht
werden. Andererseits, auch wenn ich in Breitbildformat drehte,
möchte ich so nahe wie möglich an die Personen herankommen.
Dies galt besonders für die Person des Kindes. Es ist
uns gelungen, es in Augenhöhe zu filmen und so seine
Sicht der Dinge einzufangen.
Jeder Begriff im Originaltitel „Va“,
„Vis“ und „Deviens“ entspricht auch
einem Kapitel im Film...
Die Idee zu diesem Titel hat mir eines meiner Lieblingsbücher
gegeben, „Vie et destin“ von Vassili Grossmann.
Es sind die Worte der Mutter, eine Aufforderung aus Liebe
und entspricht tatsächlich auch den drei Kapiteln in
Schlomos Leben: „Va“, geh, steht für die
Entwurzelung und die Reise in ein sichereres Leben. „Vis“,
lebe, ist die Jugendzeit, die Entdeckung der Liebe und die
Versöhnung mit dem Leben. „Deviens“, werde,
bedeutet die Erfüllung seiner Bestimmung, ein Mann zu
werden und jene Befreiung zu finden, von der seine Mutter
damals sprach.
Sind Sie damit einverstanden, dass es sich vor allem
um einen Film über die zentrale Bindung, die Nabelschnur
sozusagen, an die Mutter handelt?
Absolut. Es ist ein Film über die verzweifelte Suche
nach der Mutter. Der Film hätte auch DAS KIND DER MÜTTER
heissen können. Schlomo hat das Glück auf vier aussergewöhnliche
Mütter zu treffen: Seine eigene, die es fertig bringt
zu sagen: „Dieses ist nicht mein Sohn“, um sein
Leben zu retten, die zweite, eine äthiopische Jüdin,
die ihren Lebenssinn wieder findet, indem sie Schlomo aufnimmt
und ihn dem sicheren Tode entreisst, die dritte, seine Adoptivmutter,
die aus einer anderen Kultur kommt und entschlossen auf Schlomo
zugehen will, und schliesslich Sarah, die Geliebte, die selber
Mutter wird, dadurch Schlomo verstehen lernt und ihn zu seiner
leiblichen Mutter zurückführt.
Wir finden hier das Thema der „positiven Verstellung“
wieder, das alle Ihre Filme prägt.
Es fällt mir schwer, das zu erklären. Vielleicht
hat es damit zu tun, dass mein Vater, der Buchmann hiess,
seinen Namen während des Krieges ändern musste,
um zu überleben. Er hat sich Mihaileanu genannt, um dem
Naziregime und später dem Stalinismus zu entkommen. Auch
wenn ich das als positiv erlebt habe, gibt es einen Konflikt
zwischen diesen zwei Identitäten in mir. Ich habe lange
darunter gelitten, dass ich als Fremder angesehen wurde, wo
immer ich auch war - in Frankreich oder in Rumänien.
Heute sehe ich es als eine Bereicherung. Daher haben meine
Personen zu Anfang immense Schwierigkeiten und geben sich
als etwas aus, das sie nicht sind, damit sie sich von ihrem
alten Selbst befreien und versuchen können, eine Brücke
zu den anderen zu schlagen.
Auch wenn es sich um ein Drama handelt, ist der Humor
allgegenwärtig.
Für mich findet die gute Komödie ihre Wurzeln immer
in der Tragödie. Ich glaube fest an das Gleichgewicht
zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit. Das eine wird
genährt durch das andere; das eine kann ohne das andere
nicht existieren. Ich liebe die erhabene Unvollkommenheit
des Lebens. Der Humor ist eine Ohrfeige für Faschismus
und Verdummung, er ist die Waffe des Schwachen, des Armen,
es ist eine Art, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, indem
man den Lebensfunken sprühen lässt, es bedeutet,
der Barbarei eine lange Nase zu drehen. Nur dank des Humors
kann ich verhindern, dass ich ins Melodramatische absinke.
Wie haben Sie die Schauspieler ausgewählt?
Am schwierigsten war, die drei Schauspieler zu finden, die
Schlomo darstellen, besonders den jüngsten der drei.
Man sollte ihn von Anfang an mögen, dazu sollte er ein
guter Schauspieler sein und mindestens drei Sprachen sprechen.
Wir gaben uns drei Monate Zeit, suchten in Frankreich, Äthiopien,
Djibouti und Israel. Dann mussten wir die beiden anderen Darsteller
auftreiben. Diese sollten nicht nur äusserlich dem Kleinen
ähnlich sehen, sie sollten auch die gleichen Qualitäten
und Eigenschaften haben. Wir wollten natürliche Darsteller,
nicht solche, die etwas „spielten“. Am Ende hatte
ich grosses Glück. Sirak, der den erwachsenen Schlomo
darstellt, ist während des Drehens jeden Tag an meiner
Seite gewesen, auch wenn er keine Szene zu drehen hatte. Er
konnte die Jüngeren unterstützen und die Verbindung
zwischen ihnen und mir sicherstellen. Dank ihm ist dieser
Film erst entstanden. Was Yaël Abecassis betrifft: ich
bewundere sie seit mindestens zwölf Jahren und habe immer
schon davon geträumt, einmal mit ihr zu arbeiten. Es
ist kein Zufall, dass ich der Figur, die sie spielt, ihren
richtigen Namen gegeben habe. Sie ist ein unglaublich grosszügiger
Mensch, eine wunderbare Schauspielerin, eine Traummutter und
eine Staatsbürgerin im besten Sinne des Wortes, die über
die Situation der Israelis wie der Palästinenser gleichermassen
zerrissen und besorgt ist. Für die Rolle ihres Mannes
wollte ich einen französischen Darsteller, der sowohl
gut aussah, als auch glaubhaft einen sephardischen Juden verkörperte
und Hebräisch sprach. Ich entschied mich für Roschdy
Zem, der diese schauspielerischen und menschlichen Qualitäten
hat. Obwohl arabisch sprechend, hatte er keinerlei Mühe
Hebräisch zu lernen. Nach seiner ersten Szene in Hebräisch,
mit einem langen Monolog, hat ihm die ganze israelische Crew
lange applaudiert, sie waren alle tief bewegt und beeindruckt.
Der Regisseur Radu Mihaileanu
Radu Mihaileanu ist Franzose rumänischer Herkunft und
arbeitet als Drehbuchautor und Regisseur. Bevor er Rumänien
verliess, war er in einer Theatergruppe engagiert -
als Dramaturg, Regisseur und Schauspieler - sowie als
Schauspieler am jiddischen Theater von Bukarest. 1980 flieht
er vor Ceaucescus Regime, zunächst in Richtung Israel,
um sich dann in Frankreich niederzulassen, wo er die Hochschule
für Film, die IDHEC, besucht. Radu ist der Sohn des Filmemachers
Ion Mihaileanu.
Filmografie als Regisseur:
2004 GEH UND LEBE
1998 ZUG DES LEBENS
1993 TRAHIR
Filmografie als Drehbuchautor:
2004 GEH UND LEBE
2002 LE CONCERT
2001 LES PYGMEES DE CARLO
2000 ILE SAINT LOUIS
1998 ZUG DES LEBENS
1995 1 ENVELOPPE POUR 2
1993 TRAHIR
1988 LE BANQUET